Freitag, 10. März 2006

Kuzkas Ferien

Kuzka rilassiert sich am vergemeinschafteten Strand von Pulita. Keimfrei ist er, der Strand, rauchfrei, kein Nikotin, kein Kanapa. Marokkiner und Afrikanier hat man weggeekelt. Es muss ja nicht sein, dass sie hier Zeug verkaufen.

Anientiert ist alles unangenehme, so lässt es sich hervorragend rilassieren, Kuzka ist zufrieden. Heiß brennt die Sonne vom azurnen Himmel. Sanft rauscht die trankwille Brandung des Meeres. Schaumkrönchen tanzen auf den Wellen. Der Zaun ist mit verden Sträuchern umwuchert, sodass er nicht auffällt. Die Onden des Meeres, wie schön sie sind, der weiße Sand brennt auf den Fußsohlen.

Verlorengegangen ist Kuzkas Koffer zwar, doch sie gehört zu den Nuden, braucht somit kein Gewand. Die Nuden haben ihren eigenen Bereich im vergemeinschafteten Paradies. Zweckmäßig und modern die Zimmer nach gemeinschafter Norm eingerichtet. Alkoholfreier Wein, alkoholfreies Bier, akwatische Getränke doltschifiziert oder gänzlich ungesüßt nach vergemeinschafteten Normen. Alles nach Wunsch, jederzeit.

Der Blick zum Felsen von Gibilland, dem Ausläufer der vergemeinschafteten Union, dort, wo Kuzka zu Hause ist. Kuzka blickt zu Pont, auch er einer der Nuden. Lächeln tauschen sie und Blicke. Sein Humhum ist ein wenig erhoben, da er Kuzka gesehen hat. Kuzka muss lachen. Pont geht zu ihr hin. Sie parlieren ein wenig, freunden sich an. Ponts Humhum hat sich wieder beruhigt, die strafenden Blicke der Umliegenden ließen es moll werden. Kuzka findet Pont unterhaltsam, entdeckt im Gespräch so manche Gemeinsamkeit. Es knistert zwischen den beiden. Ob es ihr erster Tag sei, möchte er wissen. Kuzka nickt.

Langweilig werde es nach drei Tagen meint Pont. Es sei doch alles in Ordnung hier erwidert sie. Hinter den Zäunen, sagt Pont, seien es erst wahre Ferien, dort, wo die Marokkiner leben. Kuzka runzelt die Stirne, schürzt bezweifelnd die Lippen. Pont nimmt sie bei der Hand, führt sie über den makellosen Rasen, gleichmäßig und verd, vorbei an den Schwimmbecken in das vergemeinschaftet normierte Paradieshäuschchen, gebucht für zwei Wochen.

„Lass uns abhauen!", flüstert er und streicht Kuzka durchs Haar.
„Wohin denn?", rispondet sie sanft.
Hinaus, vor den Zaun, schlägt er vor. Kuzka skuotiert den Kopf. Pont lächelt, beugt sie auf das Normbett.
„Weshalb denn nicht?", frägt er, drückt mit seinem Mund einen heftigen Batsch auf den ihren.
Angst habe sie, Unionier mögen sie nicht die Marokkiner, außerdem sei ihre Validscha verloren gegangen beim Billigflug. Nur das Reisegewand habe sie und nudieren dürfe man auch nicht draußen.
„Muss ja nicht sein", dizt er, erhebt sich, holt ein Hemd und eine Leinenhose aus dem Normschrank.

Sie solle es anziehen. Das Männersommergewand schlottert an Kuzkas Körper. Einen Gürtel bindet er schließlich um ihre Hüften. Sorridierend blickt er sie an. Schön ist sie, seine Urlaubsbekanntschaft, inliebiert ist er in sie, bereits seit er sie entdeckt hat.

„Lass uns abhauen", flüstert er. Kuzka folgt ihm. Sie überschreiten die Grenze des Paradieses, Hand in Hand. Um sie herum Felsen, Trockenheit, Unordnung. Pont winkt einem vorbeifahrenden Bus. In eine Stadt würden sie nun fahren. Noch mehr Unordnung, Ungeruch, Unvergemeinschaftetes. Die Marrokkiner lächeln, niemand ist Feind. Kuzka verspürt keine Angst. Pont azendiert einen Stingel, nikotiniert mitten im Bus, tschikt sich genussvoll ein. In der Stadt höchstes Durcheinander, Sandluft, Fremdes, so viel fremd Unordentliches. Würze duftet, Abgase stinken, Fahrzeuge rattern, hupen. Gewühl, die Straßen sporkisch, vergrindet. Immondizien in den Straßengräben, Papier, Plastik, vormals Lebendiges. Und Schönheit, außerordentliche Schönheit aus Fliesen, aus Marmor und aus verspielt anmutig Verziertem. Seide fühlt Kuzka zwischen ihren Fingern, der Händler feilscht mit Pont auf Frankenisch. Kühl, weich und grazil gemustert ist Kuzkas neues Kleid.

Ihre Sinne sind verwirrt von all dem Unbekannten. Ponts Arm ist um ihre Hüften geschlungen, ein leichtes Kribbeln durchfährt Kuzka. Sie fühlt seinen Körper an ihr, seine wohligen kleinen Rundungen. Alles um sie herum ist ihr stran, zuviel der Eindrücke, zuviel der Unordnung. Kuzka weiß nichts mehr, versteht nichts, doch eines weiß ihr Inneres ganz genau - Pont werde der ihre sein für sehr, sehr lange Zeit.

© C. timidus, 2004

Zenendas Geheimnis

Zenenda sitzt an der Bar, die Ellbogen am Tresen gestützt. Rotwein schillert im Licht der Lampe über ihr, im hochstieligen Glas. Fein gemacht hat sich Zenenda, ein hübsches Kleid trägt sie, hebt es für ihre Wochenenden auf. Schonen muss man das Gewand, das Geld hat zu reichen, viel für die Robe auszugeben darf sich Zenenda nicht erlauben.

Pechschwarzes Haar sorgfältig gekämmt, zu einem kleinen Kunstwerk nach hinten gesteckt. Am Wochenende ist Zenenda herausgeputzt. Rento steht hinter der Bar, nimmt den Aschenbecher, leert rot umrandete Kippen in eine Tonne. Ein Gläschen könne sie sich noch gönnen. Schelmisch sein Lächeln. Zenenda kann nicht widerstehen und nickt.

Früh pflegt sie die Bar aufzusuchen, samstags, zu einer Stunde, da kaum Gäste dort sind. Rento ist ein wenig gelangweilt. Noch ist nicht viel zu tun. Ein Seufzen, ein Blick auf die Uhr an der Wand. Wie denn ihre Woche gewesen sei, fragt er beiläufig.

„Wie immer", Zenendas Arbeit und ihre Einsamkeit. Strampeln, den Kopf über den Wasserspiegel halten, umringt von verschlagen lächelnden Feinden. Bleierne Schwere am Abend, verlassen in den Nächten, in eine Steppdecke gewickelt. Blühende Zimmerveilchen, der Blick auf die zarten Gebilde, eine kleine Freude vor dem Schlafengehen.

Zenenda kommt Rentos wegen. Setzt sich an die Bar auf ihren angestammten Hocker, auf dass sie ihm nachblicken könne, heimlich, verstohlen, wenn er Getränke aus den Flaschen zapft. In manchen Nächten mag der Schlaf nicht kommen, da denkt Zenenda an Rento, sieht sein Antlitz vor sich, die wohlgestalte Zeichnung der zinnoberfarbenen Lippen, die blauen Augen, den kurzen, blonden Spitzbart, sein Haar im Bürstenschnitt, den kleinen Bauch, welcher das Hemd sachte wölbt. So kommt schließlich der Schlaf, süß und sanft, hebt sie behutsam in das Reich der Träume.

Samstags ist Zenenda aufgeregt, darf sie doch Rento wieder sehen. Bisweilen schenkt er ihr ein Lächeln. Doch gibt er es allen, ist schließlich Teil des Gewerbes. Zenenda weiß das, insgeheim träumt sie jedoch, es sei besonders, eigens für sie. Gäste treten ein, die Bar füllt sich mit Lärmenden, Lachenden, Scherzenden. Rento ist nun sehr beschäftigt, schenkt in Gläser ein, trägt sie auf einem Tablett zu den Tischen, stellt sie an die Theke. Zenenda trinkt, alleine, stumm, lässt ihre Augen ihm folgen.

Stunden vergehen, im Dunst, im Rauch, im leichten Rausch. Der Wein erheitert ihr Gemüt ein wenig, macht sie träumen, macht sie lächeln, stumm in das Glitzerspiel am schwarzen Lack der Theke hinein. Rauchige Klänge aus den Lautsprechern. Schneller scheinen sich die Zeiger der Uhr zu drehen. Es ist der Wein, welcher zu Kopf steigt, das Draußen vergessen lässt und stattdessen Träume zaubert. Stunden zerfließen, rinnen immer schneller. Die Bar leert sich allmählich. Zenenda bleibt, bittet Rento um Kaffee. Abermals ein Lächeln, diesmal ist es für sie. Die Lärmenden sind inzwischen gegangen. Zenenda ist nun alleine mit Rento. Die letzten Klänge, das Zischen der Kaffeemaschine. Er dreht das Licht ab, knipst eine Lampe hinter dem Tresen an, zählt Münzen und Scheine. Kurz blickt er auf. Ein langer Blick in ihre Augen. Nur das Surren der Belüftung ist zu hören.

Ob er denn jemanden habe, möchte Zenenda wissen. Ein verschmitztes Lächeln. Nur so eine Zwischengeschichte, wie er es einschätze, aber es könnte etwas daraus werden. Zenenda ist ernüchtert. Rentos Antwort und der Mokka.

Möge er doch berühren mit seinem Mund den ihren. Neuerlich treffen sich der beiden Blicke, für einen Moment, tief sieht einer in den anderen. Beinahe meint sie sein Herz zu erkennen in den blauen Augen. Sollte sie ihm gestehen, dass sie ihn liebe?

Er müsse jetzt sperren, sagt Rento. Zenenda bezahlt. Rento hilft ihr in den Mantel, hält inne, als sie in die Ärmel schlüpft. Sachte umfasst er ihre Hüfte, zart, kaum merklich ist die Berührung seiner Lippen auf ihren Mund. Es sei Zeit zu gehen, bevor noch etwas bereuenswertes geschehe, sagt er. Zenenda nickt, knöpft den Mantel zu. Sie solle bloß niemanden von den Gästen etwas erzählen, wenn sie wieder komme. Ein Geheimnis solle es bleiben, der sanfte, zarte Kuss. Seine Freundin könnte dahinter kommen, kennt sie doch einige der Gäste. Zenenda verlässt die Bar. Dunkel sind die Straßen, in ein paar Fenstern schimmert noch Licht. Eisige Winterstille. Weißes Mondlicht spiegelt sich im von Nieselregen benetzten Asphalt.

Zenenda hört den Takt ihrer Schritte. Lächelnd blickt sie zum Mond. Hat sie doch ein zartes Geheimnis.

© C. Timidus, 2003

Der Eunuch

„Hört alle her, der Jahrmarkt kommt", rief der Junge ganz aufgeregt und lief keuchend auf seinen bloßen Füßen durch die Gassen des Dorfes. Ein paar Menschen steckten neugierig ihre Köpfe aus den Fenstern, Kinder liefen aus den Toren der niederen, ärmlichen Häuser und rannten dem Jungen hinterher. „Der Jahrmarkt kommt!", kreischten sie voller Freude. Ein Mann blieb mit seiner Heugabel in der Hand stehen. „Hast du ihn denn gesehen, den Jahrmarkt meine ich", fragte er den Jungen. „Er war auf der Landstraße, dort hab ich ihn gesehen", antwortete der Junge keuchend.

Von der Ferne hörte man schon den Lärm des herannahenden Jahrmarktes. Die Wirtsleute bereiteten die Zimmer vor, denn ein paar von den Schaustellern und Händlern würden sicher im Wirtshaus übernachten wollen, dachten sie. Die Menschen traten aus ihren Häusern hervor und säumten die Hauptstraße des Dorfes, um den Jahrmarkt einziehen zu sehen.

Der Jahrmarkt zog ins Dorf ein. Eine Blaskapelle spielte, Gaukler führten ihre Jonglierkünste vor, bunt gekleidete Zwerge tanzten um die beladenen Wagen, ein dicker, ganz in schwarz gekleideter Mann brüllte durch ein Sprechrohr: „Hört zu ihr Leute, heute zieht der Jahrmarkt ein, kommt alle, seht euch das an, das dürft ihr nicht versäumen!" Die Händler zogen mit ihren von Waren überbeladenen Karren hinter den Schaustellern her.

Der Jahrmarkt schlug seine Zelte ein wenig außerhalb des Dorfes auf. Die Menschen liefen herbei und bestaunten die Feuerschlucker, die Gaukler, die Spaßmacher, die Zwerge, die in ihren bunten Kostümen akrobatische Kunststücke darboten. Einige ließen sich von den Händlern so manch Unnützes andrehen, andere lauschten den Märschen der Blaskapelle. Hinter einem der Marktstände befand sich ein kleines graues Zelt, vor dem der dicke Mann in Schwarz mit seinem Sprechrohr stand. „Kommt her!", rief er, „das gibt es nur bei mir zu sehen, kommt alle her!" Eine kleine Ansammlung von Schaulustigen bildete sich vor dem Zelt. Ein Bauer rief seine Frau zu sich: „was das wohl ist". Es kamen immer mehr Menschen zu dem Zelt. „So etwas habt ihr noch nicht gesehen, kommt her...", brüllte der Dicke. Als sich eine beachtliche Anzahl an Neugierigen vor dem Zelt versammelt hatte, lief er hinein und schrie: „Kaspar, Kapsar, komm du Drecksack." Der Dicke trat aus dem Zelt hervor, hinter ihm humpelte eine Gestalt in schmutzigen Lumpen. Sie näherten sich der Menge. „Seht her, das ist Kaspar", brülle er. Er gab dem Mann einen Fußtritt. „Geh Kaspar, damit man dich auch sehen kann." Kaspar hinkte näher zu der Menge. „Habt ihr schon einmal so etwas Hässliches gesehen?", rief der Dicke und lachte lauthals in die Menge. Die Zuschauer verstummten. Kaspar war einigermaßen groß gewachsen, kahl, sein Körper voll mit Schmutz und Schorf, der rechte Arm endete in einem fleischigen Stummel. Er stand mit bloßen Füßen im Schlamm. Kaspar ging ein wenig herum, schleifte dabei seinen linken Fuß hinterher und stieß ein paar unverständliche Laute aus. Der Dicke fasste ihn bei den Backen und presste seine kleinen klobigen Finger so fest dagegen, dass Kaspar den Mund öffnen musste. Er gab ihm einen Fußtritt und brüllte „Mund auf, du Sack". Kapsar sperrte seinen Mund weit auf. „Seht her, er hat keine Zunge, die hat man ihm herausgeschnitten, dort im Straflager", kreischte der Dicke. Die Menge begann zu lachen. „Keine Zunge, haha, seht her, er hat keine Zunge!"

„Er hat das Straflager überlebt, diese Kreatur, seht nur her wie hässlich er ist", höhnte der Dicke und versetzte ihm noch einen Tritt. Er stieß Kaspar noch näher zur Menge hin, sodass diejenigen, die weiter vorne standen, die Narben in Kaspars Gesicht sehen konnten. „Seht die Narben, oh ist der hässlich", riefen einige. „Und jetzt, jetzt seht her, das ist so hässlich, dass ihr es kaum woanders sehen könnt", johlte der Dicke. Er schlug Kaspar ins Gesicht und befahl ihm, sich seiner Lumpen zu entledigen. „Na los doch", kreischte er, „zeig den Leuten, was sie mit dir dort gemacht haben!" Kaspar schüttelte den Kopf, gab heftige Laute von sich, versuchte dem Dicken davonzuhumpeln und fiel auf den schlammigen Boden. Die Zuschauer lachten und grölten. Kaspar bekam ein paar Tritte von seinem Peiniger und stand wieder auf. Der Dicke zog ihm die vom Schlamm durchdrängte Hose herunter, die nur durch eine schäbige Kordel an seinem Körper gehalten wurde. Die Schaulustigen verstummten. Kaspar bedeckte seinen Unterleib mit der Hand und dem Stummel. Der Dicke zog ihm die Hand weg und gab ihm noch einen Tritt. Kaspar stand nun vollends entblößt vor der staunenden Menge. „Er ist ja verschnitten wie ein Ochs!", brüllte einer. Die Zuseher begannen schallend zu lachen. Sie näherten sich ihm, streckten ihre Arme aus und versuchten seinen entstellen Unterleib zu betasten. „Ein Eunuch", grölte eine Frau. „Nun liebe Leut, so etwas habt ihr noch nicht gesehen, gebt ein paar Münzen für die Darbietung", brüllte der Dicke zufrieden durch das Sprechrohr. „Tanz Kaspar, tanz für uns", johlte einer in der Menge. „Ja, tanz", begannen andere zu rufen. Einer kam mit einem Gefäß heißer Kohlen herangeeilt. Man begann mit den Kohlen nach ihm zu werfen. Kaspar versuchte davonzulaufen, fiel aber auf den Boden. Er humpelte zum Zelt, doch der Dicke ließ ihn nicht hinein und stieß ihn weg. Dann kauerte sich Kaspar nieder und hielt beide Arme vor sein Gesicht, Tränen rannen ihm über die Wangen. In der grölenden Menge stand ein Bauer, beugte sich zu seiner Frau, flüsterte ihr zu: „geh, hol Geld, schnell!" Er rieb sich das Kinn, beobachtete nachdenklich, was rund um ihn geschah. „Was verlangst du für den Eunuchen?", rief plötzlich der Bauer. „Sag mir, was du für ihn verlangst!" Der Dicke bahnte sich einen Weg durch die Schaulustigen und ging zu dem Bauern. „Dem Pfaffen hab ich fünfhundert gegeben", sagte er. „Ich gebe dir drei Goldmünzen, mehr hab ich nicht", antwortete der Bauer. „Gib mir die drei Goldmünzen, damit kann ich ein Tier für die Schaudarbietungen kaufen!" Der Dicke grinste.

Die Bäuerin ging zu Kaspar und legte um ihn eine Decke, die sie mitgenommen hatte, als sie zum Hof ging, um die Münzen zu holen. Die Zuschauer verflüchtigten sich indessen nach und nach. Der Dicke ging zufrieden zurück in sein Zelt und ließ die Goldmünzen in seiner Hand klimpern. Der Bauer legte Kaspars Arm über seine Schulter. „So, du bleibst jetzt bei uns", brummte er.

Sie kamen zum Gehöft. Im Haus wurde der Kamin angezündet. Die Bäuerin stand beim Herd und bereite das Abendmahl. Der Bauer kam mit einem Hemd und einer Hose. Er legte sie Kapsar an. „Müsste passen", grummelte er zu sich selbst. Kaspar lächelte und nickte unentwegt. Er gab ein paar leise Töne von sich. Als sie bei Tisch saßen, wurde kaum gesprochen. Für Kaspar hatte die Bäuerin das Fleisch in kleine Stücke geschnitten, damit er es leichter verzehren konnte. Kaspar saß da in seinen neuen Kleidern, schmatzte und seine Augen wurden lebhaft. „Kannst hier bleiben, hörst du!", sagte der Bauer, die Bäuerin nickte. „Brauchst nichts zu machen", brummte er.

Die Bäuerin führte Kaspar die Treppen hinauf. Oben befand sich ein weiß gekalkter Gang und drei Holztüren. Die Bäuerin öffnete die Erste gleich bei der Treppe. Das Zimmer war klein, die Wände weiß gekalkt wie der Gang, es hatte einen hellen Holzfußboden. Ein frisch gemachtes Bett und ein großer Kasten aus dunklem Holz standen darin. „Hier ist dein Zimmer", sagte die Bäuerin.

Kaspar legte sich auf das Bett, nahm den angenehm nach Waschlauge riechenden Kopfpolster und presste ihn ganz fest zwischen seine Arme. Er hatte keine Hoffnung mehr gehabt und im Augenblick seiner größten Verzweiflung ward ihm ein Geschenk zuteil, das er nicht begreifen konnte. Als er plötzlich mit seinen Kommilitonen von den Soldaten geholt wurde, als sie ihn ins Straflager brachten, ohne dass er den Grund dafür kannte, als er gezwungen war, mitanzusehen, wie seine Kammeraden umgebracht wurden, einer nach dem anderen, als er die Folter und die Demütigungen zu ertragen hatte, als sie ihm den Arm abhackten, das Geschlecht wegschnitten, das Gesicht entstellten, ihm die Zunge herausschnitten, war keine Hoffnung in ihm. Als sie ihn aus dem Lager entließen, als er von einem Pfarrer aufgenommen wurde, der ihn schlug, demütigte und sich an ihm verging, als er an den Dicken verkauft wurde, als er das Elend, die Qualen während der Hatz der grölenden Mengen zu erdulden hatte, empfand er nur tiefste Verzweiflung ob eines Schicksals, aus dem es kein Entrinnen gab. Nun lag er in einem Bett, in einem Zimmer, in unbeschreiblichem Frieden und mit der Dankbarkeit eines Geretteten. Er schlief ein, die Lippen zu einem ganz sachten Lächeln geformt.

Am nächsten Morgen klopfte die Bäuerin an Kaspars Tür. Es rührte sich nichts. Nach einer Weile trat sie ein und sah Kaspar im Bett liegen, mit einem sanften Lächeln auf den Lippen. „Kaspar" sagte sie, „das Frühstück wird kalt." Kaspar rührte sich nicht. Sie rüttelte ihn, doch er erwachte nicht. Sie strich ihm übers Gesicht und spürte, dass es kalt war. Kaspar war tot.



© C.Timidus, Juli 2002

Leilonda

Leilonda ist so schön. Jeder erwähnt ihren Namen voller Ehrfurcht, so schön ist sie. Rotblondes Haar, schlanke Hüften, der Körper zur Gänze enthaart, aus weißem Wachs die Haut. Ihre grünen Augen suchen und finden fast jede Samstagsnacht im Rumbaklub. Wählerisch ist sie, die schöne Leilonda. Mustert, betrachtet, hört zu und entscheidet. Sie verführt mit roten Krallen und überschminkten Lippen. Farbe über die Fältchen im Gesicht gepinselt.

Die Garderobe aus Mailand, vom feinsten. Leilonda knatscht Kaugummi mit Wildkirschengeschmack, ohne Zucker. Selbst der Kaugummi ist teuer, aus der Apotheke. Vitamine sind ihm zugesetzt. Sie tänzelt sich durch den Rumbaklub, fängt Blicke, mal hier mal da.

Gonz lächelt schüchtern. Sein Bauch wölbt sich ganz sanft über den Gürtel der Hose. Er besucht den Klub Leilondas wegen. Jeden Samstag steht er bei einem einzigen Getränk stundenlang an der Bar und wartet auf Leilondas Erscheinen. Gonz hat nur wenig Geld, er kann sich nicht durchsetzen. Er ist eben nicht für die Neue Zeit geboren worden. So humpelt er durchs Leben. Die Miete geht sich aus, Nahrung und ein Getränk jeden Samstag im Rumbaklub. Auf Gonz pflegt man herumzutrampeln, er ist so weich. Weiche Haut, weiches Herz, da trampelt es sich leicht. Im Betrieb, manchmal auch im Rumbaklub. Freunde hat er keine. Er tröstet sich, indem er von Leilonda schwärmt. Leilonda, Leilonda, oh schöne Leilonda! Ach hätte er doch den Mut, sie einmal anzusprechen. Gonz kann es nicht, so ist er weiterhin am Träumen.

Leilonda liebt die Neue Zeit. Erfolgreich ist sie, kann Ränke schmieden, ist überall und nirgendwo zu Hause. Ihr Konto kann sich sehen lassen. Im Rumbaklub bestellt sie Campari, oder andere Feinheiten, die viel kosten. Es spielt ja keine Rolle. Das Getränk braucht nicht mal zu schmecken. Man schmeckt nicht mehr in der Neuen Zeit. Leilondas Herren müssen makellos sein, selbst für die paar Stunden Lust. Mehr braucht Leilonda nicht, auch den Herren ist das nur Recht. Vollkommen hat der Wuchs zu sein, die Kleidung, das Konto, auch das Gemächt. So ist Leilonda eben. Anspruchsvoll. Sie kann es sich leisten.

Ramp besucht den Rumbaklub regelmäßig. Ein wahrer Kerl in florentiner Tuch. Dreitagebart nach neuester Mode geschnitten. Keinen Millimeter weicht ein Barthaar vom anderen ab. Das schwarze Haar mit Gel verglänzt. Am Körper auch Dreitagebärte, überall, eine neue Dienstleistung der Neuen Zeit. Wenn Ramp erscheint, wird’s still im Rumbaklub. Ramp hat so breite Schultern, so schönen Wuchs. In teuren Turnstudios auf Maschinen gewachsen. Gänsehaut rieselt über die Rücken der Damen, auch so mancher Herren. Bewundernde Blicke himmeln zu Ramp. Erfolg hat er mit Rechnerprogrammen. Kungeln kann er der Ramp, Krieg führen, unerbittlich, so setzt er sich durch. Schnell muss es gehen, immer schneller. Auch mit der Lust. Ramp mochte Leilonda eine Zeit lang, ist sie doch wie er.

Endlich! Leilonda stelzt in Richtung Bar. Kalte Küsschen auf Ramps Wangen, wächsernes Lächeln. Gonz’ Herz pocht heftig. Immer stärker hämmert das weiche Herz gegen die weiche Brust. Nicht eines Blickes würdigt sie ihn. All seinen Mut nimmt er zusammen, geht auf sie zu. Leilondas knallige Wachslippen heucheln ein Lächeln. Eisig kalt berühren ihre Hände seinen Unterarm.

„Kennen wir uns?", flüstert sie gleichgültig. Gonz schüttelt zaghaft den Kopf. Schlanke Finger mit roten Krallen betasten den Bauch, fahren durch die Knopfleiste zur behaarten Haut. Leilonda wendet sich ab. Zu dick sei er, meint sie und auch Herren sollten die Behaarung zeitgemäß bearbeiten lassen. Angewidert von Gonz’ haariger Weichheit, seiner Scheu, stolziert sie fort, um Ramp zu umgarnen. Doch Ramp ist Leilondas mittlerweile überdrüssig. Derzeit bevorzugt er die quirlige Tutu, welche jeden Samstag aus einem anderen Land stammt. Sie pflegt Englisch, nicht das örtliche Idiom zu sprechen, wie es sich eben gehört. Tutu ist jünger als Leilonda und so wundervoll exotisch. Tanzen kann sie. Wild schwingt sie ihre Hüften zu Allerweltsmusik. Künstliches Knallen und Tutus Hüften. Das Leben ist wunderbar! Tutu ist sehr beliebt im Rumbaklub.

Gonz sperrt sich auf dem Klo ein und weint. Geekelt hat ihr vor ihm, vor seiner Sanftmut, seiner Scheu, seinen Haaren, seinem Bauch. Man hatte ihm beigebracht, dass Weinen verboten sei. Auf dem Klo denkt er, könne ihn ja keiner sehen.
„Weg hier", schreit es in ihm. „Nur weg hier!"
An der Tür zur Bar begegnet ihm Tutu in einem Nebel aus Schweiß und Parfum.
„Hallo Putzi", quiekt sie mit dem Akzent einer Anglophonen, „na amüsierst du dich? Ganz rote Augen. Zu viel Ramtatam reingezogen wie!"
„Ja!" Gonz schluckt, sein Hals hat einen Knoten vom Heulen.
„Zu viel Ramtatam!"

Gonz verlässt den Rumbaklub. Er wird ihn nie wieder betreten. Leilonda kocht vor Wut. Der stählern schöne Ramp hat sie zurückgewiesen. Ein Mischgetränk verlangt sie, stürzt das Kaltflüssige die Kehle hinunter.
„Noch eines", giert sie die Kellnerin an, „aber flott! Ja!"
Tutu ist erschöpft. Sie bläst die Luft aus geblähten Backen, betritt den Raum auf dessen Türe „Privat" in Messinglettern prangt. Der Leiter des Klubs ist zufrieden.
„Wie viel krieg ich jetzt?", fragt Tutu in einheimischem Dialekt.
„Nun gut, sagen wir hundert Quenare!", brummt der Schneidige hinter dem Eichenholztisch.
Enttäuscht nimmt Tutu die Banknote. So viele Stunden Tanzen, Schaustellen und nur hundert Quenare. Sie faltet den Geldschein, steckt ihn in den Ausschnitt des Arbeitskleides. Ramp der stählerne Krieger. Seine Lust wird nun zur Bezahlung der Studiengebühren beitragen. Tutu muss eben noch ein paar Stunden so tun als ob.

Betrunken wankt Leilonda aus dem Lokal. Kreischt und winkt ein Taxi herbei. Enttäuscht ist sie und zornig. Ramp, der schöne Krieger, hat sie zurückgewiesen. Der Lenker erweckt in ihr Verlangen. Leilonda giert nach Mann. Jung ist er, riecht nach Seife aus dem Großmarkt.
„Macht ja nichts", lallen die Gedanken.
„Auch wenn er ein..."
Größer wird ihre Gier, wächst an, überwältigt sie.

Ob er für vierhundert Quenare noch mit ihr ginge. Der Lenker zögert. Vierhundert Quenare. Kinderkleidung, eine Kleinigkeit für seine Frau. Das Geld reicht ohnehin hinten und vorne nicht. Einmal die Miete pünktlich bezahlen können. Beider Arbeit reicht kaum zum Leben. Er willigt ein. Leilonda riecht und spürt Mann. Im Geiste einen erfolgreichen Edelmenschen vor sich habend, kann sie sich in wildem Entzücken erfreuen. Seufzend nimmt der Lenker die Banknoten. Kinderkleidung, eine Kleinigkeit für die Frau.


© C. Timidus Wien im August 2003

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